Neugier und Intuition machen gemeinsame Sache und verführen uns dazu, die östliche Hälfte Finnmarks und damit abgelegensten Teil Norwegens zu erkunden. Wir bedanken uns bei dem Duo dafür.
68º N - Einreise
Neben der Strasse, mitten im Nichts, ein asphaltierter Platz. Flankiert von einigen Containern, einer Baracke mit Feuerstelle, ein paar Kameras. Ein stattlicher Kerl in Tarnanzug, rotbrauner Bart und Schopf, adrett und freundlich, ist unser erster Kontakt. Auch wenn wir es erwartet haben, hier an der Grenze von Finnland zu Norwegen passiert es: Das erste Mal, bei über einem Dutzend Grenzüberfahrten seit Pandemiebeginn, werden wir angehalten. Wohltuend unaufgeregt und entspannt nennt er uns die Einreisebedingungen. Diese sind klar und deutlich, machen Sinn und sind leicht zu erfüllen. Kurze Zeit später setzen wir unseren Weg fort.
Wir sind in Finnmark, dem nordöstlichsten Bezirk Norwegens, und halten nach wie vor nördlich, auf der einzigen Verbindungsstrasse weit und breit. Entlang dieser finden sich erstaunlich grosse Siedlungen, mit all den Infrastrukturen welche die lokale Bevölkerung zum Leben braucht. Zwischen diesen Orten liegen aber auch mal gut und gerne 100km, und da erstrecken sich seitlich der Strasse riesige Gebiete, tausende Quadratkilometer - wahrhaft - Wildnis, ohne jede Zivilisation. Keine Strassen, Wege oder Siedlungen, nur hügelige Tundra, Flüsse, unzählige Seen, Sumpfgebiete, endlos, beeindruckend! Finnmark hat eine Bevölkerungsdichte von 1,5 Einwohner auf 1 km2, sowas kennen wir in Mitteleuropa nicht.
Omnipräsente Geweihträger
Wie auch im Norden Schwedens begegnen wir hier in Finnmark überall Rentieren, die einzige Hirsch-Art die je domestiziert wurde. Schöne Tiere, mit ihren wuchtigen, pelzigen Geweihen anmutig-elegant in der Erscheinung, aber so gar nicht im Gang (schief-beiniges Gehopse wenn sie rennen). Sie grasen in Vorgärten, sonnen sich auf Bootsstegen, spazieren durch Dörfer und bevorzugt den Strassen entlang. Sie weichen auch nicht ins rettende Gebüsch aus wenn Fahrzeuge nahen, sondern traben unbeholfen stur weiter auf der Strasse. So sehr ihre breiten Hufe für den Schnee geeignet sind, so schlecht taugen sie auf Asphalt...
Sie sind ähnlich präsent wie in Mitteleuropa Kühe, jedoch frei laufend überall anzutreffen, weder ganz wild noch richtig handzahm: Näher als knapp 2 Meter ist nicht ran zu kommen. Aus relativer Distanz sind uns ein paar Aufnahmen gelungen:
Unsere erste helle Nacht in Norwegen verbringen wir noch im Landesinneren. Erst am nächsten Tag erreichen wir die zerklüftete Küste, an unserem ersten Fjord. Da teilt sich die Strasse, und der Intuition folgend (meist eine gute Idee!) fahren wir nicht gleich weiter hoch zum Nordkapp, sondern zweigen östlich ab. Neugierig machen wir uns daran, diesen äussersten, abgelegenen Teil Norwegens und zugleich nordöstlichsten Zipfel Europas zu erkunden. Wir erhalten einen ersten Eindruck der arktischen Landschaft, und eine Bestätigung für die Aussage eines Freundes:
„Schweden ist schön, Norwegen ist atemberaubend!"
Reisen im Norden mit Elefantino - und die Sache mit dem Geld
Leben und vorwärts kommen wird uns hier in Skandinavien leicht gemacht. Die Strassen sind überall gut, mal grösser, mal schmaler. Pisten gibt’s, muss man aber eher suchen. Seit einigen 1000 km keine Autobahn mehr, und so gut wie keine Ampeln und kein Verkehr, alles durchwegs angenehm. Die Navigation ein Kinderspiel: Meist gibt’s nur eine sinnvolle Route. Elefantinos Stoffwechsel ist soweit gesund und versorgt uns mit allem Essenziellen: sein Motor läuft, die Heizung brummt, die Wasserpumpe schnurrt, der Kühlschrank surrt, der Strom fliesst - alles so wie’s sein soll. Die „Sorgen-Kinder“ (da gehört z.B. u.A. die Heizung dazu) sind artig, keine nennenswerte Probleme.
Wir könnten problemlos und komfortabel 1000km weit und über eine Woche lang ohne jede Versorgung auskommen. Aber reichlich Infrastrukturen, die Verfügbarkeit von Wasser überall und prall gefüllte Supermärkte hier machen das überflüssig. Bis in die hintersten Winkel des Landes ist in den Läden alles zu finden, von lokalen (Fisch-) Spezialitäten bis hin zu reifen pakistanischen Mangos (pervers), alles in erstaunlich guter Qualität. Klar, die Preise sind hoch, ca. schweizer Niveau, aber zu verkraften. Alkoholisches und auswärts Essen ist allerdings übertrieben teuer. Unsere Strategie: Wir investieren unser Geld lieber in die Einkäufe und kochen gut und reichhaltig. Die Restaurant-Kultur ist hier auf dem Land nicht so verbreitet. Der Grossteil der Lokale, an denen wir vorbei kommen, ist geschlossen. Vermutlich nicht nur wegen Nebensaison, sondern auch in Folge Corona… An solche Bedingungen haben wir uns über viele Monate hinweg gewöhnt.
Apropos: Seit wir in Skandinavien unterwegs sind, seit über 6 Wochen: Keine Euros, aber auch keine schwedischen oder norwegischen Kronen, nein - überhaupt kein Bargeld! Wir haben gar keine lokale Währung. Ausnahmslos alles nur mit Karten bezahlen, das geht hier, und oft nur das. Unsere Auslagen beschränken sich fast ausschliesslich auf Diesel, Lebensmitteleinkäufe und selten sowas wie Campingplatz-Kosten (eigentlich nur für die Wäsche).
Neben den ewigen Tagen und hellen Nächten und den Rentieren also wieder etwas gänzlich Neuartiges. Etwas, das ich bis jetzt vermeiden konnte. Denn gut finde ich das überhaupt nicht: Die Abschaffung von Bargeld wäre ein weiterer Schritt hin zur Möglichkeit der totalen, lückenlosen Verfolgung / Überwachung. Orwell lässt grüssen. Auch wenn es futuristisch anmutet, hier ist diese Zukunft Gegenwart. Ja, einerseits praktisch, andererseits zwingend: Der kleinste Shop in der hinterletzten Ecke hat einen Kartenleser, und nimmt oftmals gar kein Bargeld, und verweist ansonsten auf eine App, welche sich auf jedem Smartphone der lokalen Bevölkerung findet.
71º - der ewige Tag
Über 250 km folgen wir einer gewundenen Strasse, teils der Küstenlinie folgend, teils durch raue Ödnis, magisch angezogen vom Ende dieser einen Strasse, wieder ein Mal. Slettnes heisst das Naturschutzgebiet da und liegt fast auf gleicher Höhe wie das vielbesuchte und touristische Nordkapp. Ein Glückstreffer, wie sich zeigt, nicht zuletzt wegen dem guten Wetter.
Es ist der 5. August, wir kommen gegen 22:30 an, die Sonne steht noch oberhalb des Horizonts. Eine kleine Wanderung: Wach bleiben ist die Devise… Dafür werden wir stundenlang mit einem Abendrot belohnt, welches nahtlos in das Morgenrot übergeht. Die Sonne versinkt kurz in der Barenz-See (22:53) um wenig später wieder hoch zu kommen (01:47). Die Wartezeit veredlen wir uns mit einem Gin-Tonic als Mitternachts-Appero und einem feinen Essen vor dem Sonnenaufgang. Erst danach legen wir uns schlafen.
Da stehen wir mal wieder, am Ende der Welt, bei einem Leuchtturm, déjà-vu.
Das wunderbare, verblüffend milde Wetter veranlasst uns ein Tag zu bleiben: Trocken, kaum Wind, ist eine grosse Räumungsaktion angesagt: Das ganze Bike-Equipment wird auf den kommenden Einsatz vorbereitet. Der Besuch von einem eigenartig zutraulichen Fuchs sorgt für Abwechslung. (Später erfahren wir: Er wird angefüttert… sigh.)
Nach einer zweiten taghellen Nacht vor Ort und bei bestem Wetter beschliessen wir, den ungeplanten Abstecher in den Osten noch um eine Schlaufe zu erweitern. Erst mal denselben Weg zurück durch diese sagenhafte Wildnis, dann ein Stück durch ein geschütztes Tal: Üppige Vegetation - in diesen Breitengraden niemals erwartet - trägt dazu bei, dass wir jetzt, wie auch die nächsten Tage, nicht mehr aus dem Staunen heraus kommen. Wir folgen wir der Küstenstrasse der Halbinsel Varanger östlich bis in die „Nacht“ hinein.
Wärme
Am nächsten Morgen finde ich mich nach dem Duschen nackig draussen vor Elefantino in der Sonne… Äh, WO bin ich? Polarkreis? Arktis? Im T-Shirt fahren wir weiter, umrunden die Halbinseln der Küste entlang. Eine klassisch schöner Strand - weisser Sand, tiefblaues Wasser - wir machen ein Spaziergang…: Die Bilder sprechen für sich. (Was ich da übrigens in der Hand halte, ist ein angespültes Kelp-Blatt).
Unser Empfinden kontrastiert kräftig mit dem Umstand, dass wir in dieser Gegend nicht nur in der geografischen Arktis sind, sondern in dieser äussersten Ecke Europas auch in einem Gebiet mit arktischem Klima: Der Golfstrom verliert hier seine Wirkung.
70º N - Vardø
Ein Tunnel unter dem Meer hindurch führt auf die Insel mit der Stadt Vardø. Die östlichste Stadt Skandinaviens nahe zu Russland wirkt wie ein vergessener Ort exotisch auf uns. Sie trumpft mit einigen Superlativen auf, unter anderm damit die nördlichste befestigte Stadt der Welt und die älteste von Finnmark zu sein. Tatsächlich können wir da eine Festung besichtigen, sowie ein modernes Mahnmal welches an die dortigen Hexereiprozesse des Mittelalters erinnert. Nachdem wir bereits einige Dörfer angeschaut haben, vervollständigt diese Stadt unser Bild, wie hier im hohen Norden gelebt wurde und wird.
Anmerkung zu den Bildern: Auf 2: Grasbewachsenes Dach des Manschaftshaueses der Festung. Diese Art von Dächer sind vielerorts in Norwegen anzutreffen.
Auf 3: im Vordergrund die antiken Kanonen, hinten am Horizont die hochmoderne Küstenüberwachung des Norwegischen Militärs. (Russland ist nahe...)
Zu dem verrosteten Anker auf 6 und 7: Faszinierend, wie Rost Eisen organisch verändert... sieht doch aus wie Holz, nicht?
Für die Nachtstunden fahren wir mal wieder bis zum Geht-nicht-mehr-weiter des kleinen Strässchens. Was sich lohnt, der Küstenabschnitt ist spektakulär wild.
Eine Tagesetappe später sind wir zurück auf belebteren Hauptstrassen, es wird wieder touristisch. Klar - jetzt geht’s hoch zum Nordkapp. Nicht gerade eine Autobahn (gibt es hier weit und breit nicht) aber doch eine gut ausgebaute Landstrasse führt zur bekannten Sehenswürdigkeit. Die Landschaft dahin ist nach wie vor karg und beeindruckend - wir wehren uns gegen die Gewöhnung an solche Anblicke. Dankbar für die Erfahrung des fast unberührten Slettnes sind wir gefasst auf was uns hier erwartet.
71º10’21“ - Nordkapp
Es ist gar nicht sooo schlimm: Der vorgelagerte, gigantische Parkplatz würde sicherlich zur Hauptsaison 200 Wohnmobile fassen, ist jetzt aber „nur“ ca. zu einem Viertel mit den hier dominanten Reisevehikel besetzt. (Es reisen schon auch einige mit Autos, und ein paar wenige Verwegene auf Motor- und Fahrrädern.) Der Zugang ist gratis, nicht aber derjenige zu einem grossen Gebäudekomplex dahinter, der kostet etwas um die 27 Euro. Da der Bau aber kaum mehr als eine Bar, ein Edelrestaurant und einen riesigen Souvenirladen enthält, sparen wir uns das.
Wir richten uns an einer geeigneten Ecke des Parkfeldes ein, und kurz darauf treffen auch Susanne und Jens ein. Die beiden, mit ihrem Fuso ebenfalls aus dem Hause Woelcke, quasi ein Geschwister von Elefantino, haben wir im März "zufällig" am anderen Ende von Europa, in Andalusien, getroffen. Sie parken neben uns. Wir verbringen den Abend samt Essen und lustige Momente zusammen.
Im Gegensatz zum milden Wetter in Slettnes ist die Witterung passend dramatisch zum Ort: Mehr als weniger starker Wind, ab und an dichter Nebel, etwas Regen und vereinzelt Sonnenstrahlen - uns ist der freie Blick auf den Sonnenuntergang diese Nacht vergönnt, ein sicherlich seltenes Erlebnis hier.
Für uns der perfekte Moment, und wir packen zum ersten Mal auf diesem Trip unsere Räder aus. Vorne beim Globus, dieser weltberühmten Skulptur, machen wir ein ausgiebiges Foto- und Filmshooting. Das zusammen mit Susanne und Jens, und inmitten ungewohnt vieler Leute. Es wird gelacht, gejohlt… - ausgelassene Stimmung, die sich ein wenig wie Party anfühlt… Ein fast vergessenes Feeling.
Unsere Freunde reisen am nächste Tag ab, wir bleiben noch einen. Der kalte Wind und dichte Nebel, man sieht keine 30 Meter weit, erleichtert uns das Fokussieren auf unsere Rechner. Wir arbeiten Diverses auf, denn morgen wird sich unsere Reisedynamik verändern, ab hier startet unsere eBike-Route, ab jetzt wird wieder geradelt!
Das ist der Plan: Bisher gab es einen Start in Paris, einen am nördlichsten Punkt von der Iberischen Halbinsel (Galizien) und einen weiteren am südlichsten Punkt von Festland-Europa (Tarifa). Das Nordkapp, der nördlichste Punkt von Festland-Europa, ist als Startpunkt der nächsten Radreise naheliegend.
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